Am heutigen feministischen Kampftag möchte ich über queerfeministische Ansprüche und Realität seit dem 7. Oktober sprechen.
Wie in allen politischen Szenen gibt es auch in der queerfeministischen ein Problem mit Antisemitismus – zum einen, weil sie Teil einer antisemitischen Gesellschaft ist, aber auch, weil es einige spezifische Leerstellen in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus gibt. Kritik an diesen Zuständen wird seit vielen Jahren formuliert – mal polemisch, mal solidarisch. Mal konstruktiv, mal gehässig. Der Austausch zwischen antisemitismuskritischen und queerfeministischen Linken hat sich in der Vergangenheit oft als schwierig erwiesen, doch vor allem jüdische queere Feminist_innen haben konstruktive und solidarische Kritik formuliert, wie etwa die Gruppe latkes*Berlin, der Verein keshet, das Jüdische Revolutionskommitee, die Autorinnen Judith Coffey und Vivien Laumann mit ihrem Band „Gojnormativität“, oder einzelne aktivistische und publizierende Menschen wie Debora Antmann, Julia Alfandari, Leah Carola Czollek und Gudrun Perko, nur um wenige Beispiele zu nennen. Leider mündeten diese Bemühungen nicht in ein kollektives Verantwortungsgefühl, sich gründlich damit auseinanderzusetzen. Viele Stimmen der queerfeministischen Szene schalteten stattdessen in den Abwehrmodus und versäumten eine hinfällige Aufarbeitung. Die Quittung dessen ist seit dem 7. Oktober, dem Tag des brutalen Massakers der Hamas und dem größten Angriff auf jüdisches Leben seit der Shoah, und spätestens seit der israelischen Kriegsoffensive, die bisher über 30.000 Menschenleben auf der palästinensischen Seite kostete, unübersehbar. Anstatt sich mit allen zivilen Opfern zu solidarisieren, ist es in vielen queeren Kontexten zu einem antisemitischen Konsens geworden, die blutigen Taten der Hamas, darunter sexualisierte Gewalt und Folter, zu verharmlosen oder gar zu leugnen – im Irrglauben, so habe eine antirassistische Politik auszusehen. Dass Opfer islamistischer Gewalt häufig übersehen werden, ist leider nichts neues – Frauen und Queers in Ländern wie Afghanistan, Iran oder Nigeria werden seit vielen Jahren im Stich gelassen. Doch dass Feminist_innen sich eher mit den Tätern als mit den betroffenen Frauen und Mädchen solidarisieren, markiert eine neue Qualität der selektiven Empathie. Als würde das Anerkennen des Leids von jüdischen und israelischen Frauen in Konkurrenz zum Leid der Palästinenser_innen stehen, die sich seit über 150 Tagen in einer humanitären Katastrophe befinden. Die Lebenssituation der Menschen in Gaza ist so schrecklich, dass jegliche Beschreibung außerhalb meines Vorstellungs- und Sprachvermögens liegt.
Wer in starren Dualitäten denkt und die Welt in schwarz und weiß aufteilt, wird sie nie gänzlich erfassen können. Queerfeminismus hat mir beigebracht, dass binäres Denken aufgebrochen werden muss. Die totalitäre Aufteilung in gut oder böse, in männlich oder weiblich, in Freund_in oder Feind_in dient vor allem den Herrschenden und unterbindet kritisches und komplexes Denken. So habe ich gelernt, dass ein Individuum von einer Sache negativ betroffen sein und gleichzeitig von einer anderen Unterdrückungsform profitieren kann. Doch die Fähigkeit zu abstrahieren und die Gesellschaft mehrdimensional zu analysieren, scheint in Teilen der Szene seit dem 7. Oktober völlig verloren. Diese Entwicklung ist nicht nur anti-intellektuell, sie ist auch verdammt gefährlich.
Wo sonst auf Intersektionen gepocht wird, arbeitet man plötzlich doch lieber mit Single-Issue-Denken. Oder blendet alle Widersprüche aus, die das Weltbild zum Wanken bringen. So verklärt man Jüdinnen_Juden zu weißen Subjekten, sortiert Antisemitismus, wenn überhaupt, als ein Sub-Genre von Rassismus unter und straft all jene, die diese Zustände kritisieren, mit dem Label „antideutsch“ ab. So gehen auf Demos und Events schnell Eintrittsverbote für diese ominösen Antideutschen rum. Auch wenn es schwer ist, einzugrenzen, wer oder was überhaupt antideutsch ist, hat es immer auch berechtigte Kritik an der antideutschen Szene gegeben, insbesondere aus queerfeministischer Perspektive, wenn es um Misogynie, Transfeindlichkeit oder Rassismus ging. Die Art und Weise, wie alles, was antisemitismuskritisch ist, als antideutsch gebasht wird, wirft für mich die Frage auf, ob es nicht spannender wäre, das subversive Potenzial des Begriffs aus antisemitismus- und rassismuskritischer linker Perspektive zu diskutieren, anstatt ihn zu einem Schlagwort zum Erschaffen eines Feindbilds verkürzen zu lassen. Das Motto „Nie wieder Deutschland!“ war in den vergangenen Monaten so aktuell wie lange nicht.
Ehemalige Safer Spaces sind zu Orten des Ausschlusses verkommen, ausgehend von queerfeministischen Communities als eine homogenen Masse, die sich in allem einig ist. Angesichts der stetigen Selbstkritik, Diskussionen und Konflikte innerhalb der queerfeministischen Szene erscheint dies besonders absurd. Eigentlich war die Pauschalisierung dieser Szene ihren konservativen Kritiker_innen vorbehalten und nicht ihren Mitgliedern, doch dieser Vorsatz wurde gebrochen, gleich dazu auch „Glaubt Betroffenen“ und „Tokenisiert nicht die paar Betroffenen, die eurer Meinung sind“ oder die Kritik an White Saviorism.
Ich weigere mich jedoch zu akzeptieren, dass die antisemitische und rassistische Doppelmoral dominieren soll. Antisemitismuskritik muss Teil einer queerfeministischen Praxis sein – nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Grundsätze. Gegen selektive Solidarität und für einen Queerfeminismus, der nicht vor Komplexität zurückschreckt!
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